Geschichte

EINWANDERUNG IN DAS SCHWARZMEERGEBIET

ulm_early_1800s Den Anfang einer organisierten Ansiedlung von Deutschen auf dem Territorium der Ukraine bildete 1767 die Ankunft von 173 Bauern- und Handwerkerfamilien im Gouvernement Tschernigow, die ursprünglich für die Wolgaregion bestimmt waren. Die in der Belowescher Steppe gegründeten 6 deutschen Kolonien bekamen die Bezeichnung „Belowescher Kolonien“. Dem Beispiel ungarischer Magnaten folgend, haben einige Landbesitzer in Klein-Russland und dem Schwarzmeergebiet (P. RumjanzewSadunajskij, A. Prosorowskij, G. Potemkin) für die Entwicklung von Ackerbau und Gewerbe Deutsche auf ihre Landgüter eingeladen. Das hat jedoch keine Verbreitung gefunden. Auf ehedem Ländereien der Saporoger Kosaken, die in Eigentum der Krone überführt waren, wurden als Staatsbauern mehr als 2 Tausend Danziger Mennoniten und Lutheraner angesiedelt (1787-1788). Sie wurden in Danzig und Umgebung von Assessor Trappe im Auftrag des Fürsten Potemkin angeworben. Mennoniten wurde Land auf der Insel Chortitza und in der Nähe, Lutheranern in der Nähe von Jelisawetgrad (Alt-Danzig) und Jekaterinoslaw (Josefstal und Fischerdorf) zugewiesen.
german_migration_routes Die Napoleonischen Kriege waren für die Bevölkerung von Württemberg, Baden, Elsass, Hessen-Darmstadt, Pfalz, Preußen und ihrer Nachbarstaaten eine schwere Last. Als Folge kamen Auswanderungsstimmungen und das Suchen nach günstigeren Lebensbedingungen auf. Die Rechtsangleichung der Untertanen des jungen Königreichs Württemberg und insbesondere die Kirchenreform riefen bei Pietisten Unzufriedenheit und den Wunsch, unter toleranterer Obrigkeit zu leben, hervor. Das an Land reiche Taurien und die Glaubensfreiheit zogen die mit ihrem Schicksal Unzufriedenen an.
passport Bei der Aufnahme von Einwanderern im nördlichen Schwarzmeergebiet im 19. Jahrhundert wurden Fehler und Schwierigkeit der Kolonisation des Wolgagebiets berücksichtigt. Alexander I. setzte neue Regeln für die Ansiedlung von Ausländern in Kraft (1804). Ihre Aufnahme wurde von diplomatischen Vertretungen Russlands im Ausland durchgeführt. Die Kolonisten mussten über Erfahrungen im Ackerbau oder Handwerk und einen bestimmten Geldbetrag verfügen. Sie wurden partienweise, vor allem per Schiff die Donau abwärts bis Galatz oder auf dem Landweg durch Europa bis Odessa und Jekaterinoslaw und von dort zu den Ansiedlungsorten geleitet. Für die Ansiedlung kompakter Gruppen stellte die Regierung Staatsländereien zur Verfügung und kaufte Gutsbesitzern von ihnen nicht erschlossenes Land ab, stellte die Finanzierung, den Bau und die Einrichtung der Wirtschaft sicher. Mittel, die für die Einrichtung der Kolonisten erforderlich waren, mussten von diesen an die Krone zurückgezahlt werden.
list_of_German_colonists_of_the_8th Glaubensfreiheit, Zuteilung von je 60 Desjatinen Land, lebenslange Befreiung vom Militärdienst, 10 abgaben- und steuerfreie Jahre waren die wichtigsten Privilegien für die neuen Einwohner der Region. Bei Null beginnend, lebten sie in den ersten Jahren unter schwierigen Bedingungen, was nicht selten Krankheiten und den Tod zur Folge hatte.
dugouts _first_colonists_black_sea_region Als Ergebnis mehrerer Einwanderungswellen nach dem Süden Anfang des 19. Jahrhunderts, konnten im Gouvernement Cherson kompakte Ackerbaukolonien gegründet werden: in der Nähe von Odessa, Nikolajew, Berislaw und Grigoriopol; in den Gouvernements Taurien und Jekaterinoslaw: am Fluss Molotschnaja, auf der Krim, in der Umgebung von Mariupol und Berdjansk.
plan_of_lands Gegen Mitte des Jahrhunderts zählte man in diesen Gouvernements bereits 170 Mutterkolonien mit einer Bevölkerung von über 85 Tausend Personen. Wegen der revolutionären Ereignisse in Europa (1848) wurde die weitere Aufnahme von Kolonisten untersagt.

SCHWARZMEERGEBIET

mother_colonies_of_the_black_sea_region Das an Russland angegliederte Territorium zwischen Bug und Dnjestr (1791) wurde der Türkei entrissen. Um sich in den neuen Grenzen festzusetzen, die Städte und Häfen (Odessa, Nikolajew) zu entwickeln, war eine wirtschaftliche Erschließung der Region erforderlich, doch das Ergebnis des ersten Jahrzehnts war ergebnisarm. Daher besann man sich erneut auf ausländische Kolonisten, denen staatliche Ländereien zugeteilt wurden, welche von Grundbesitzern zurückgekauft oder eingezogen wurden, die es nicht vermochten diese zu erschließen. Dank Auswanderern aus Württemberg, Baden, der Pfalz, aus dem Elsass, Preußen und Ungarn entstanden in den Steppen des Gouvernements Cherson die landwirtschaftlichen Kolonien Mannheim, Kandel, München, Kassel, Speyer, Rastadt, Rohrbach, Karlsruhe, Worms, Sulz u.а. (1804–1810, 1817–1821). 4 Kolonistenbezirke nahe Odessa, Nikolajew, Grigoriopol’ mit einer Fläche von mehr als 160 Tausend Des. wiesen zum Zeitpunkt ihrer Aufhebung (1871) 32 Kolonien mit einer Bevölkerung von ca. 55 Tausend Personen auf.
fragment_of_the_plan_of_kuchurgan_district_of_kherson_province_1820 In der nicht erschlossenen Steppe und der Zone riskanten Ackerbaus angekommen, hatten die Kolonisten mehrere Aufgaben zur Erschließung der Steppe zu lösen, und das ohne Kenntnis der russischen Rechtsordnung und Sprache, sowie ihrer Umgebung, oftmals ohne erforderliche Fertigkeiten und bei spärlichen Kontakten nach Außerhalb der Kolonien. Die Anpassung dauerte mehrere Jahrzehnte. Pro Familie wurden 60 Des. Land zugeteilt. Anfänglich konnten lediglich 2-3 Des. gepflügt und bestellt werden. Der schwere und wenig handliche Holzpflug wurde von 2-3 Wirten genutzt. Er wurde von 6-8 Ochsen gezogen und von 3 Ackerbauern in der Furche gehalten. Bis 1848 besaß jeder Wirt im Beresaner Bezirk schon einen von Pferden gezogenen Eisenpflug (Vierspänner), Wohlhabende besaßen deren 2.
family_of_catholic_colonists Zu wichtigsten Ausrichtungen der Wirtschaft wurden Getreideanbau, Viehhaltung, Gemüseanbau, Gärtnerei. Anfänge einer Kooperation kamen 1847 in Glückstal auf, wo 23 unternehmungslustige Wirte eine Käserei errichteten um höhere Erträge von der Viehhaltung zu erzielen. In diesem Jahr haben sie 360 Pud Käse hergestellt. 1852 beliefen sich die Einnahmen aller Bezirke vom Verkauf von Getreide, Lebensmitteln und Wolle auf 614 Tausend Silberrubel. Intensiver als in anderen Kolonien entwickelten sich in den hiesigen Kolonien Weinanbau und Kelterei. Unter ihren Häusern begannen die Kolonisten Weinkeller zu errichten. 1841 wuchsen im Liebentaler Bezirk 3,3 Mio Rebstöcke, im Glückstaler Bezirk 1,2 Mio (39 % aller Rebstöcke in Ausländerkolonien). Die Ernte ergab fast 1,5 Mio Liter Wein. An der Spitze liegend, besaßen die Deutschen Anfang des 20. Jh. 3 Tausend Weingärten auf einer Fläche von 1 000 Des.
manual_grape_press Obwohl sich mennonitische Handwerker durch ihre Fertigkeiten einen Namen gemacht haben, hatte den Vorrang bei der Innovation der Pflüge der Kolonist des Liebentaler Bezirks Konrad Bechtold (Freudental), der eine ganze Reihe von Pflügen und anderen Geräten konstruiert hat. Er verbesserte den kleinrussischen Pflug und siegte damit beim Test der Pflüge in Odessa (1840).
johannes_holtzwart Der eiserne „Bechtolds Pflug“ fand rasch Verbreitung. 1852 wurden davon allein in Freudental 167 Stück gefertigt, fast ebenso viele wie im gesamten Molotschnaer Mennonitenbezirk. 1858 wurde eine bedeutende Anzahl von Pflügen an die Molotschnaja geliefert. In den Liebentaler Kolonien bildete sich die Infrastruktur einer ländlichen Siedlung heraus, die den Bedürfnissen der Bevölkerung und deren Entwicklungsmöglichkeiten entsprach.
water_cistern Kirche, Pastorat und Schule, Schulzenamt, gemeinschaftliche Trinkwasserquellen, Getreidevorrats-Magazin und in der zentralen Kolonie die Bezirksverwaltung und das Haus des Kolonieaufsehers. Dieser Aufbau wurde in allen Ausländerkolonien angewendet. Die Kolonien hatten einen geordneten Grundriss, mehrheitlich als Straßendorf. Für den Bau wurden Baustoffe aus örtlichen Vorkommen (Muschelkalk, Kalkstein, Lehm) verwendet. Für den Bau wurden Baustoffe aus örtlichen Vorkommen (Muschelkalk, Kalkstein, Lehm) verwendet.
yard_typical Die Kolonisten haben selbst Stein gebrochen. Gemeinde-Steinbrüche gab es in fast allen Kolonien des Schwarzmeergebiets.
yard_with_cellar In Gross-Liebental wurde bereits 1809 eine Brandkasse gegründet. Bei Brandschäden haben alle Wirte dem Geschädigten entsprechend dem Wert ihrer Gebäude Unterstützung geleistet.
threshing_in_the_glückstal_colony Der 100. Gründungstag wurde in allen Kolonien des Schwarzmeergebiets feierlich begangen. Den Namen Groß-Liebental bekam ein Meteorit, der 1881 in der Nähe der Kolonie einschlug.

VERWALTUNG DER KOLONIEN IM SCHWARZMEERGEBIET

instruction Den Kolonisten gewährten Rechte und Privilegien, das auf der Idee der fürsorglichen Betreuung errichtete besondere System der Kolonienverwaltung, förderten die Einrichtung und Entwicklung der Kolonien. Die Kolonisten standen unter fünffacher Aufsicht: der gewählten Amtsträger, der Aufseher, der Fürsorgebehörden, der Kirche, der allgemeinen staatlichen Behörden. Eine Gruppe von Kolonien bildete einen Kolonistenbezirk. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es 16 deutsche und mennonitische Bezirke.
newspaper Für die Verwaltung wurde 1800 das Fürsorgekontor in Jekaterinoslaw eingerichtet. Seine Kompetenzen waren in der Instruktion von 1800 reglementiert. Der Schlesier Samuel Contenius wurde zum ersten Leiter des Kontors (1800–1818). Die Kolonien wurde verwaltet von Aufsehern, die dort ständig wohnten, und von den von der Obrigkeit bestätigten, aus den Reihen der besten Kolonisten gewählten Oberschulzen, Amtsbeisitzern, Dorfschulzen und Beisitzern. Ihre Tätigkeit war durch die Instruktion für die innere Einrichtung und Verwaltung der Kolonien reglementiert (1801), die 70 Jahre lang in Kraft war. In jeder Kolonie wurde ein Dorfamt mit einem Schulzen an der Spitze eingerichtet. In der Hauptkolonie eines Bezirks gab es das Bezirksamt mit einem Oberschulzen. Ihnen oblagen Fiskal- und Polizeifunktionen, sowie die Regelung von weniger wichtigen Streitigkeiten zwischen Kolonisten. Die Gewähr der wirtschaftlichen Prosperität sah man in der Disziplin und der Arbeitsamkeit. Arbeitsscheuen, Nachlässigen und Aufsässigen drohte als Mahnung für die Anderen, Bestrafung bis hin zur Körperstrafe, Entzug der Wirtschaft, Verbannung nach Sibirien, Ausweisung über die Landesgrenze. Die gewählten Amtsträger waren Vollstrecker der Entscheidungen der Kolonialverwaltung in allen Lebensbereichen, waren dieser gegenüber Rechenschaft schuldig und für alle Vorkommnisse in der Kolonie verantwortlich. Diese Selbstverwaltung hatte bis 1871 Bestand.
s_h_contenius Mit dem Anwachsen der Anzahl der Siedlungen wurde eine neue Behörde, das Fürsorgekomitee für ausländische Ansiedler in Südrussland (1818), gegründet, das alle Ausländerkolonien in den Gouvernements Cherson, Jekaterinoslaw, Taurien und dem Gebiet Bessarabien verwaltete. Das Komitee hatte Vollmachten einer Gouvernementsverwaltung und war neben der Einrichtung der Kolonien und Förderung ihrer Entwicklung auch für deren Kontrolle, Abgaben, polizeiliche und gerichtliche Belange sowie den Strafvollzug zuständig. Es unterstand dem Innenministerium, später dem Ministerium für Reichsdomänen (1837) und übte die Verwaltung mittels der Fürsorgekontore in Odessa, Jekaterinoslaw und Kauschany (1818–1833) sowie der Aufseher und gewählten Amtsträger aus. An seiner Spitze standen meistens Baltendeutsche: E. Hahn, Baron F. von Rosen, Baron P. Mestmacher, A. Hamm, F. von Lysander, W. von Oettinger. Das Komitee analysierte die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonien und hat zur Verbreitung von neuen Kenntnissen über die Wirtschaftsführung und die Entwicklung des Handwerks unter den Kolonisten eine Zeitung in deutscher Sprache herausgegeben (1846–1862).
fragment Die deutschen Kolonisten unterlagen als russische Untertanen, wie andere Staatsbauern auch, den allgemeinen Normen der russischen Gesetzgebung.
regulations Geltende Gesetzesbestimmungen, die das Leben der Kolonien direkt betrafen, wurden in den „Verordnungen für die ausländischen Kolonien in Russland“ (1857) zusammengefasst.
building Das Jahr 1871 brachte eine radikale Veränderung des Status der Kolonisten und einen Wandel ihrer Verwaltung mit sich: sie wurden zu Ansiedlern-Eigentümern, die Fürsorgebehörden wurden abgeschafft, die Kolonistenbezirke aufgelöst, auf deren Territorium Amtsbezirke (Wolost’) geschaffen, die Verwaltung oblag den Gouvernements- und Bezirksbehörden.

promise-img Zu dieser Zeit zählte man in 3 Gouvernements auf Staatsland mehr als 190 deutsche und mennonitische Kolonien mit einer Bevölkerung von 150 Tausend Seelen beiderlei Geschlechts und fast die gleiche Anzahl von Kolonien auf gekauftem und gepachtetem Land. In ihrem Eigentum waren mehr als 1 Mio. Desjatinen Land.
Quelle: Wanderausstellung „Deutsche in der Ukraine: Geschichte und Kultur“
Das Virtuelle Museum der Schwarzmeerdeutschen wird von der Europäischen Union im Rahmen des Programms „House of Europe“ gefördert.




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